Psychotherapie
Brief von Marianne, die ich nicht persönlich kenne:
26. Juli 2023
Essstörung als Chance und Weckruf fürs geliebte Leben – Eine Frage zur Wut?
Sehr geehrter Herr Dr. Ziegler
Zuerst ein grosses Kompliment!!!
Ich finde Ihr Verständnis für Essstörungen bemerkenswert und Ihre Herangehensweise an das delikate Thema erfrischend liebevoll. Ihre Publikationen sind MEGA.
Bei der Entstehung von AN scheint Wut (Liebeskummerwut) eine wichtige Rolle zu spielen. Kann es sein, dass diese Wut ursprünglich von jemand anderem ausging? Sie weisen auf die verschwiegenen Ausraster eines Elternteils hin: Mein Vater hatte jeden zweiten Tag einen solchen Ausraster, natürlich hinter vershclossenen Türen und mit mir als gezwungene Zuschauerin, ein eingeschüchtertes Kind, dreht er völlig durch, fluchend und hasserfüllt schlug er z. B. auf den Vogelkäfig ein und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Ein unberechenbarer und völlig unverhältnismässiger Zorn. Pure Gewalt für ein kleines Kind. Damals war ich überzeugt, eines Tages schlägt er mich tot. Kann es sein, dass ich genau diese Wut in mir trage? Dieser Gedanke ist mir beim Durchlesen Ihrer Publikation gekommen, denn diese Wut fühlt sich sonderbar an und passt einfach nicht zu mir.
Meine beste Freundin heisst Anorexia. Sie steht mir schon seit vielen Jahren zur Seite und auf sie ist immer Verlass. (…) Ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen im Namen aller jungen Frauen, denen Sie mit Ihrem Engagement helfen. Das ist extrem wertvoll, was Sie leisten, einfach unbezahlbar. Ich hätte mir als junge Frau auch eine solche Unterstützung gewünscht. (…)
10. August 2023
(…) Herzlichen Dank für Ihr einfühsames, kompetentes Feedback. Ein wundervolles Gefühl, wenn Sie mich so auf Anhieb verstehen, sozusagen dieselbe Sprache sprechen. Selbstverständlich dürfen Sie Auszüge meines Briefes auf Ihre Homepage stellen, wie Sie erwähnen besser nur unter meinem Vornamen. Ich würde mich sogar freuen, etwas Nützliches beitragen zu dürfen. (…)
Schon Friedrich Nietsche hat geschwärmt, wie sehr das Lachen die Gesundheit fördert: „Zehnmal musst du lachen am Tage und heiter sein; sonst stört dich der Magen in der Nacht, dieser Vater der Trübsal.“ Die Heiterkeit soll am besten aus dem Bauch kommen und den ganzen Körper erfassen.
Hermann Hesse beschreibt, wie Siddharta im Lachen des Kindes zur Erleuchtung fand, zu einem Zeitpunkt, als er seinem Leben ein Ende setzen wollte: „Tot war der Singvogel, von dem er geträumt. Tot war der Vogel in seinem Herzen. Ekel und Tod hatte er von allen Seiten in sich eingesogen… Siddharta dachte über seine Lage nach. Schwer fiel ihm das Denken, er hatte im Grunde keine Lust dazu, doch zwang er sich. Nun, dachte er, da alle diese vergänglichsten Dinge mir wieder entglitten sind, nun stehe ich wieder unter der Sonne, wie ich einst als kleines Kind gestanden bin, nichts ist mein, nichts kann ich, nichts vermag ich, nichts habe ich gelernt. Wie ist das wunderlich!... Aber Kummer darüber konnte er nicht empfinden, nein, er fühlte sogar grossen Anreiz zum Lachen, zum Lachen über sich, zum Lachen über diese seltsame, törichte Welt. „Abwärts geht es mit dir!“ sagte er zu sich selber und lachte dazu, und wie er es sagte, fiel sein Blick auf den Fluss, und auch den Fluss sah er abwärts gehen, immer abwärts wandern, und dabei singen und fröhlich sein. Das gefiel ihm wohl, freundlich lächelte er dem Fluss zu. War dies nicht der Fluss, in welchem er sich hatte ertränken wollen?“
In der Geschichte von Pinocchio heisst es :“Und dann geschah etwas, das man kaum hätte glauben können, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Es geschah nämlich, dass Pinocchio und Docht nicht etwa von Schmerz und Scham ergriffen wurden, als sie sich von der Krankheit befallen sahen, sondern sie zwinkerten ihren unmässig gewachsenen Ohren gegenseitig zu und brachen nach tausenderlei Ausgelassenheiten in ein unbändiges Gelächter aus. Und sie lachten, bis sie sich die Seiten halten mussten.“
Viktor Frankl brach als einer der ersten mit der Vorstellung, die therapeutische Atmosphäre müsse von distanzierter Ernsthaftigkeit geprägt sein.
Zum Sinn des Widersinns gibt es eine alte Geschichte: „Es war einmal eine Mutter, die ging mit ihrem Kind am Nil spazieren. Ein Krokodil packte ihr Kleines und wollte es verschlingen. Die Mutter weinte und jammerte, bis das Krokodil ganz gerührt ein paar dicke Krokodilstränen zerdrückte und sprach: „Liebe Mutter, ich habe zwar schrecklichen Hunger und würde dein Baby gar zu gerne auffressen, aber du sollst es wieder haben, wenn du erraten kannst, was ich tun werde: fressen oder zurückgeben.?“ Da besann sich die Mutter lange und sagte schliesslich sein: „Du wirst mein Kind auffressen.“ Denn sie dachte: Dann muss mir das Krokodil mein Kind zurückgeben - denn: hab ich seine Absicht erraten, so bekomme ich es sowieso zurück, nach der Verabredung. Habe ich aber falsch geraten, so wird es mir also das Kind nicht fressen, sondern zurückgeben. Das Krokodil aber sage: „Du magst meine Absicht erraten haben oder nicht – ich werde dein Kind auf jeden Fall auffressen. Denn: Hast du richtig geraten, nun, so werde ich dein Baby fressen. Hast du falsch geraten, so fresse ich es ebenfalls, entsprechend der Verabredung.“ Uns so streiten sich die beiden noch heute.
Soweit die Geschichte: In der östlichen Zen-Praxis werden Kôans verwendet, das sind widersinnige, unlösbare Aufgaben. Das Sprengen des rationalen Denkens ruft im nachhinein regelmässig einen Zustand inneren Friedens hervor. Sobald von der Tyrannei der Gedanken befreit, äussert sich die affektive Lebenskraft in unbändigem Gelächter. Zen-Meister lachen bei allen möglichen Gelegenheiten, selbst bei solchen, die für den Europäer überhaupt nicht erheiternd zu sein scheinen. Unbewusste Vorgänge folgen keiner engen Logik, sondern funktionieren symbolisch wie im Traum, und sie dienen der Vermeidung von Unlust und den Willen zur Macht.
Theodor Vischer liess vor 170 Jahren verlauten: „Der Humor ist ein Kind des Hasses und der Liebe, der Weltverachtung und der liebenden Humanität, und nur darum vertraut sich ihm auch das Heilige zum Spiel an. Der Humor will das Heilige festhalten, und das gelingt am besten durch Selbstverlachung. Der Humor steht dann erhaben und klein, stark und schwach, weise und dumm da… und diese Selbstparodie ist mit dem edelsten Selbstvertrauen nicht nur vereinbar, sondern vielmehr durch dieses erst möglich.“
Der Humor ist ein vielschichtiges, ja schillerndes Phänomen. Die Humorreaktion ist Ausdruck einer lustvoll erlebten Selbststeigerung, nachdem einschränkende Barrieren des Alltagslebens überwunden wurden. Das Erlebnis ist umfassend, weil es Körper, Gefühle und Geist zusammen einbezieht. Auch teilt sich der lachende Mensch seiner Umgebung mit. Er zeigt an, dass er sich in einer lustigen Weise über Hemmnisse hinweggesetzt hat. Die Humorreaktion führt an die Wurzeln der Menschheitsentwicklung heran. Bevor der Mensch sprechen konnte, diente das Lachen dem Ausdruck positiver Nachrichten. Durch das Lachen fühlte sich eine Gruppe überlegen und zusammengehörig. Die Gruppe signalisierte damit ihrem Gegner „Wir fürchten dich nicht, wir sind stark und sicher!“ Auch wenn Menschen heute zusammen lachen, fühlen sie sich so. Sie kümmern sich auch kaum noch um richtig oder falsch. Das Lachen fördert Distanz zu schmerzlichen Erinnerungen. Spannungslösendes Lachen erlaubt, neben der Scham auch andere Gefühle zuzulassen. Im gemeinsamen Lachen erlebt sich der einzelne nicht mehr als Opfer, sondern er fühlt sich selbstbestätigt.
Um die Humorreaktion hervorzurufen, bedarf es also einer Grenzüberschreitung. In der Vorzeit war es eher unvernünftig, sich mit einem Raubtier oder einem Mammut einzulassen. Und dennoch hat der Mensch diese Gefahr auf sich genommen, bis zum heutigen Tage! In Abenteuer und Sport wird das Schicksal nach wie vor herausgefordert. Oft paart sich Angst mit Lust, die Folge ist das ausgelassenen Lachen in den Achterbahnen eines Vergnügungsparks.
Der Humor steht im Spannungsfeld des Gegensinnigen. Als Bespiel diene der Vertreter eines Naturvolkes, der sich vorwurfsvoll an eine geschnitzte Totemfigur wendet und ausruft: „Sei nur nicht so stolz, ich kenn dich noch als Zwetschgenbaum.“ Das Göttliche wird hier mit dem Alltäglichen und das Metaphorische mit dem Konkreten assoziiert.
Den kosmischen Optimismus beschreibt Hermann Hesse in seinem Steppenwolf. Der vereinsamte Steppenwolf vergisst in der Liebe zu zwei jungen Frauen seine Düsterkeit. Der Rausch einer Ballnacht zieht ihn in den Sog eines gewaltigen Lebensdurstes. Er findet sich schliesslich in einem unwirklichen Magischen Theater wieder. Und dort soll er daran gehen, sein Selbstbild zu ändern. Der wundersame Musikant Pablo hält ihm einen Spiegel vor die Augen: Und der Steppenwolf sieht „etwas zerflossen und wolkig, ein unheimliches, in sich selbst bewegtes, in sich selbst heftig arbeitendes und gärendes Gesicht: sich selber.“ Pablo erklärt ihm: “Dieses entbehrlich gewordene Spiegelbild werden Sie jetzt auslöschen, lieber Freund, mehr ist nicht vonnöten. Es genügt, dass Sie, wenn Ihre Laune es zulässt, dieses Bild mit einem aufrichtigen Lachen betrachten. Sie sind hier in einer Schule des Humors, Sie sollten lachen lernen. Nun, aller höhere Humor fängt damit an, das man die eigenen Person nicht mehr ernst nimmt.“
Und Oskar Lockowandt schreibt: „Wer das Fest des Lebens feiern will, der muss sich irgendwann – sei es nach schwerer Qual, sei es nach lange geübter distanzierter Neutralität - zu der Einsicht durchringen, dass die erfrischende und heilende, weil sinnbietende Freude die Gutheissung der Welt im ganzen voraussetzt.“
Dostojewski lässt einen, der das Leben zu lieben gelernt hat, im „Traum eines lächerlichen Menschen“ ausrufen: „Oh, Leben, Leben! Entzücken, unermessliches Entzücken erhob mein ganzes Wesen, Ja, leben und verkünden! Und seit der Zeit verkünde ich nun! Ausserdem liebe ich jetzt alle, und die, die über mich lachen, liebe ich am meisten.“
Für seine Überlegungen benutzt das Unbewusste Ironie, Spässe und Rätsel, ohne diese Überlegungen im bewussten Sinne lustig oder humorvoll zu empfinden. Was dem Bewusstsein humorvoll erscheint, ist für das Unbewusste ein ernsthafter Vorgang. Dies ist dann besonders irritierend, wenn das Unbewusste bedeutsame Probleme (z.B. während des Träumens) in einer Art behandelt, die für das Bewusstsein oberflächlich oder lächerlich erscheint. (Milton H. Erickson)
Wenn in Träumen, Scherzen, Versehen oder Wortspielen das Unbewusste schwerwiegende und ärgerliche Probleme abgekürzt und mit Leichtigkeit behandelt und dem Bewusstsein auch auf diese Art mitteilt, erhält das Bewusstsein einen überraschenden, oder gar unseriösen Eindruck. (Milton H. Erickson)
… und trotzdem sind diese unbewussten Überlegungen wertvolle Ressourcen, wenn das Bewusstsein lernt, sie richtig zu verstehen.